Anonymitätsfallen reduzieren

Die kluge Alternative zur anonymen Mitarbeiterbefragung! Teil 1

Almost a duty! Fast jedes größere Unternehmen macht sie regelmäßig: Anonyme MA-Befragungen. Sie sollen Auskunft über die Zufriedenheiten, das werte Wohlbefinden, Führungsqualitäten – und Schwächen geben, zeigen, wo es Handlungsbedarfe gibt. Man möchte gerne ein allgemeines Stimmungsbild abbilden, Vergleiche schaffen – am besten leicht erfassbar in ansprechenden Kreisen, Diagrammen oder dreifarbigen Balken. Es soll dem Management helfen zu erkennen, wie es der Mannschaft so geht, wo es Verbesserungsbedarf braucht. Bei positiven Ergebnissen ist es ein wichtiges Marketingtool, Imagepflege, Ausdruck einer hochprofessionellen Organisation. Doch sind sie eine sinnvolle Investition, pure Verschwendung oder sogar schädlich?

Anonymität trägt nicht zu mehr Offenheit bei. Im Gegenteil.

Was anonyme MA-Befragung auf jeden Fall verursachen: eine erhöhte interne Beschäftigung. Es werden Angebote eingeholt, Für und Wider gecheckt, in Workshops werden Fragebögen auf die Organisation angepasst. Es wird die Software gekauft, installiert und getestet. Dazwischen geht es mehrmals zwischen HR und Management hin und her. Dann beginnt das Bewerben – eine hohe Beteiligung soll erreicht werden. Aussendungen, ein wichtiger Agenda-Punkt in Führungskräftemeetings stehen an. Die Teilnahme soll unbedingt freiwillig sein, es sollen bitte viele mitmachen, damit es sich lohnt. Die Anonymität wird dabei stark betont und zugesichert – sie soll vertrauensfördernd wirken und ermutigen. Multiplikator:innen werden aktiviert, persönliche Gespräche geführt und ein, zwei Reminder versendet. Die Spannung steigt. Die Kosten für all das auch.

Wenn der Fokus nicht die Arbeit selbst, sondern die Ergebnisse der Befragung ist.

Ist eine hohe Teilnahme mit positiven Ergebnissen ein Zeichen von hohem Engagement, ein Erfolg oder ein Zeichen hoher Pflichterfüllung? Kann man „im Schutze der Anonymität“ mal die „Sau rauslassen“ und sagen, was wirklich nicht passt? Sind positive Ergebnisse echt positiv, oder schonen sich Mitarbeiter: innen vor den After-Workshops, die nach der Befragung weiter beschäftigen werden? Schützt man sich vor unangenehmen Vorgesetzten, vor anstrengenden „Ach-so-war-die-Frage-gemeint“-Gesprächen, vor Maßnahmenentwicklungen zur Verbesserung der Zufriedenheit – da müssen nochmal alle ran? Mit den Ergebnissen beginnt die weitere Beschäftigung.

Das Interaktionsverhalten in der Organisation orientiert sich nicht an der eigentlichen Arbeit, sondern an den Befragungsergebnissen. Das hat seinen Preis. Spätestens jetzt stellt sich die Frage: Wieso hält man an diesen Umwegen so fest?

Nachdem die anonyme Befragung abgeschlossen ist, bekommen alle die Ergebnisse zugesandt. Transparenz für alle. Nein? Wofür haben wir denn Hierarchieebenen. Man beginnt wieder von „oben“: Das Top Management begutachtet, externe und interne Berater:innen präsentieren, liefern Hypothesen, Einschätzungen und Vorschläge.

Dann werden die Führungskräfte informiert. Interne Vergleiche von oftmals völlig unterschiedlichen Bereichen, Division, Märkten werden als Power Point auf Riesenscreens projiziert, vermeintlich „schlechte“ Ergebnisse fallen auf – die unmögliche Vereinfachung komplexer Zusammenhänge leuchtet vom Screen. Top Führungskräfte, Profis, erinnern sich an Schulzeiten, blättern im Handout und murmeln vor sich hin.

Im Anschluss daran beginnt die Analysephase. Wieso diese Ergebnisse? HR braucht Maßnahmen – doch bitte die Anonymität wahrend. Mit oder ohne externe Begleitung werden die Ergebnisse in den Führungsebenen analysiert, interpretiert und vermeintliche Schlussfolgerungen in erste Maßnahmen gegossen.

Die Ergebnisse einer anonymen Befragung als objektives Abbild der Wirklichkeit zu betrachten, ist verlockend. Es reduziert das soziale Gefüge des Unternehmens auf messbare und steuerbare Parameter. Die Vereinfachung hat oftmals einen hohen Preis.

Weiter geht es „nach unten“ – auch die „Basis“ darf sich nun in ihrer spärlichen Arbeitszeit – die Projekte warten – in Workshops setzen und auf Grafiken starren. Man blättert die Power Points durch, versucht sich zu erinnern, zu erklären „Wieso haben wir denn dieses Ergebnis?“ – „Ach, die Frage habe ich ja ganz anders verstanden.“ „Du auch?“ Einige Mitarbeiter: innen fragen sich leise oder laut, was denn der Sinn einer anonymen Befragung sei, wenn man dann doch wieder im Team darüber reden muss, soll, kann, darf? Führungskräfte sind teilweise nervös. Sie wollten für ihre Karriereentwicklung besser „abschneiden“, einige Mitarbeiter: innen verhalten sich ruhig, andere sehr kooperativ. Manche lächeln, andere entwickeln engagiert konstruktive Maßnahmen. Was alle machen: Sie verhalten sich zur anonymen Befragung und zur Hierarchie, nicht zur Arbeit.

Ob sich der Aufwand lohnt? Die Krux bei der anonymen MA-Befragung ist: Sie kann das Vakuum und die Missverständnisse in der Organisation erhöhen. Sobald die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens genährt statt reduziert wird, haben anonyme Befragungen, abgesehen vom hohen Aufwand, einen weniger förderlichen Beitrag als eigentlich gewollt. Die Frage bleibt offen: Wozu? Wozu dieser Umweg, wenn es direkt nicht auch und nicht viel besser geht?

Hoch komplexe Systeme sind permanent in Bewegung. Eine wohlüberlegte Intervention mit weniger interner Beschäftigung kann hochwertiger wirken und zahlt mehr in die Existenzberechtigung der Organisation – in die Arbeit selbst – ein.

Teil 2 Die erwachsene Organisation >>

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