Um dem komplexen Problemfeld „Pflegenotstand“ mit nachhaltigen Lösungen begegnen zu können, bedarf es einer ernsthaften Auseinandersetzung, wie Arbeitsorte der Pflegeorganisationen den Menschen und ihrer Arbeit gerecht gestaltet werden können. Nur so wird es möglich sein, den jahrzehntealten Symptomen Fachkräftemangel, zu rasches Ausscheiden aus den Pflege-Berufen, vorhandene Belastungen in den Unternehmen und in den zu pflegenden Familien, sowie dem Innovationsmangel entgegenzuwirken.
“Bad Management are destroying good care”
Es braucht strukturelle Änderungen und einen anderen, humaneren Blick auf Pflegearbeit. In der österreichischen Pflegelandschaft herrscht nach we vor, wenn auch teilweise bereits im Abbau, eine mechanistisch geprägte Vorstellung von Unternehmensführung. Eine Logik, die aus produzierenden Industrieunternehmen von vor einem Jahrhundert abgeleitet wurde und sich auch im Pflegebereich, einem hoch-komplexen, hoch-sozialen Arbeitsfeld etabliert hat. Diese tayloristische, hierarchische Form der Unternehmensgestaltung zeigt sich vor allem in der funktionalen Teilung von Pflegetätigkeiten. Und in der Messung von und Zergliederung in Einzelleistungen, durch hohe Anstrengungen, die Arbeit steuern, vorgebend und kontrollieren zu müssen und in einer Zunahme an Bürokratisierung. All das ist sowohl unökonomisch als auch eine sozial abschätzige Form, mit Menschen umzugehen. Solange der Fokus auf Effizienzsteigerung aus diesen mechanistischen Logiken heraus weiter betrieben wird und innerhalb dieses alten Denkrahmens nach Lösungen gesucht wird, wird es nicht gelingen, nachhaltig eine Stabilisierung des Pflegesektors zu erreichen. Diese Form der Unternehmensführung ist einer der größten Irrtümer in der Gestaltung von Arbeit und Zusammenarbeit in Komplexität.
Bereits sehr bekannt ist das erfolgreiche Pflegunternehmen Buurtzorg aus den Niederlanden. Charakteristisch für dieses Beta-Unternehmen sind selbstorganisierte Teams in Dezentralität. Der Gründer Jos de Blok war bereits mehrmals in Österreich und ist einigen Schlüsselpersonen aus Wirtschaft, Politik und aus dem Gesundheitssektor bekannt.
Fakten: Was ein dezentrales Organisationsmodell, was das Arbeiten in selbstorganisierten Teams an Erfolgen bringt:
- Von 2006 bis heute ist Buurtzorg auf 15.000 Mitarbeiter*innen gewachsenen. Es gibt das Thema Fachkräftemangel nicht. Buurtzorg war bereits fünf Mal bester Arbeitgeber. Die Mitarbeiterzufriedenheit und die Patientenzufriedenheit liegen bei 9 von 10.
- Die Kosteneinsparungen im Vergleich zu den herkömmlichen, hierarchischen Organisationsformen liegen bei bis zu 40%. Die Organisation braucht weniger Stunden pro Kunde und Jahr. Es gibt einen Rückgang der ungeplanten Krisenversorgung. Das Buurtzorg-Modell führt zu mehr Prävention und kürzeren Pflegezeiten und somit werden auch weniger Pflegefachkräfte gebraucht.
- Es ist eine effizientere Pflegeorganisation. Das zeigt sich durch höhere Produktivität, niedrigere Overheadkosten (dieser beträgt nur 8%), geringere Fehlzeiten und eine Bearbeitungszeitersparnis. Weniger Administration und mehr Pflegearbeit.
- Es gibt in mittlerweile 27 Ländern Buurtzorg-Modelle. Auch in Österreich. Aktuell wird der gemeinnützige Organisation Buurtzorg Cura Cummunitas der Zugang zu Landesförderungen verwehrt.
- Ernst & Young hat errechnet, wenn alle Homecare-Organisationen so arbeiten würden, wie Buurtzorg, dies zu potenziellen nationalen Einsparungen von €2 Milliarden Euro pro Jahr führen würde.
Von diesem Modell können wir lernen
Diese Form der Organisationsgestaltung bildet die Grundlage für starke Teamarbeit in dezentralen Strukturen. Sie erfüllt so den Auftrag im ganzheitlichen Sinne arbeiten zu können. Sowohl das Abschaffen von Einzelleistungsmessungen, als auch das wieder Zusammenführen der zerteilten Pflegearbeit sind wesentliche Grundlagen für das erfolgreiche Gelingen dieser herausfordernden und sehr sinnstiftenden Arbeit. Wie bereits oben erwähnt, ist das aktuell leider sehr ausgeprägte mechanistische Vorgehen weder kostengünstiger noch ermöglicht es eine gezieltere Nutzung von Pflegeleistungen.
Im Gegenteil. Die damit einhergehende hohe Bürokratisierung und das Auseinanderfallen von komplexen Aufgabenfeldern hat massive, einschneidende Auswirkungen auf die Berufsfreude. Es stellt einen mehrdimensionalen Kostenfaktor dar. Den vielen, engagierten Fachkräften nicht zuzutrauen, dass sie im Sinne ihrer Profession das jeweils erforderliche Handeln selbst gestalten und auch entscheiden können, entspricht einem inhumanen Menschenbild. Die Pflege von Menschen ist hoch-komplex. Dafür sind Fachkräfte mit ihren menschlichen Fähigkeiten in der Pflege und in der Beziehungsgestaltung erforderlich. Fachliche Tätigkeiten funktional zu trennen, macht es unmöglich, komplexe Aufgabenfelder zu lösen. Tayloristisches Vorgehen schwächt die gesamte Leistungsfähigkeit einer Organisation, schadet gesamt-volkswirtschaftlich und ist maßgeblich verantwortlich für den Fachkräftemangel.
„Fürsorgliche Geschäftspolitik schafft nachweisliche Rendite.” Riane Eisler, Caring Economy
Empfehlungen
Es muss ein Ziel im Pflegebereich sein, wieder attraktive, humanistische Arbeitsorte zu schaffen. Orte, wo Pflegekräfte wieder gerne arbeiten, sich wirksam erleben und gestaltend ihre Fachlichkeit den Patientinnen und Patienten zur Verfügung stellen können. So, dass gemeinsames Gestalten von Pflege durch hoch-autonome Teamarbeit ermöglicht wird. So, dass sich dies in einer betriebswirtschaftlichen Verbesserung auszeichnet und die Digitalisierung die Zusammenarbeit und Arbeit erleichtert – und damit administrativer Aufwand minimiert wird. Es bedarf einer umfassenden und ernsthaften Beschäftigung mit den Merkmalen dieser erfolgreichen Organisationsgestaltung. So, dass die Reintegration der menschlichen Fähigkeiten in diesen hochkomplexen Bereich gelingt und es sich menschlich als auch betriebswirtschaftlich lohnt. Dies bedeutet auch, die gut gemeinten und doch unvollständigen Versuche, innerhalb bestehender Systemlogiken Selbstorganisation aufzubauen, sein zu lassen. Es gehört grundlegend neu gedacht.
Ergänzungen
Client satisfaction rates are the highest of any healthcare organisation. Staff commitment and contentedness is reflected in Buurtzorg’s title of Best Employer (4 out of the last 5 years). And impressive financial savings have been made. Ernst & Young documented savings of around 40 percent to the Dutch health care system, and a KPMG Case Study in 2012 found: “Essentially, the program empowers nurses (rather than nursing assistants or cleaners) to deliver all the care that patient’s need. And while this has meant higher costs per hour, the results have been fewer hours in total. Indeed, by changing the model of care, Buurtzorg has accomplished a 50 percent reduction in hours of care, improved quality of care and raised work satisfaction for employees.” https://www.buurtzorg.com/about-us/
Ernst & Young computed that if all homecare organisatzion worked the way buurtzorg does, it would create potential Dutch national saving of €2 billion euro per year. https://bit.ly/33VVDOr
“(…) Allerdings müssen auch die Politik und die Versicherungen mitziehen, neue Wege bei der Bezahlung von Pflegeleistungen zulassen und Vertrauen in die Pflegekräfte entwickeln, sonst wird ein solches System nicht funktionieren.” ttps://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2019/mit-leichtem-gepaeck/umsorgen-nicht-pflegen
All the value that is created by Buurtzorg but is not converted into financial benefits for Buurtzorg, falls under the Social Case.
This is value that benefits the society (citizens, clients, tax payers), or „social returns‟. For example: The use of the client network creates a social value, because their work offers a replacement for social provisions paid for by taxes or social insurance premiums (e.g. health care). Suppose that every euro that the government invests in promoting the client network and the Wmo infrastructure delivers five times the savings for society due to the decrease in health care consumption. This gives social returns of 1:5. The better this ratio, the better justified the investment of the every euro by a party that serves the public interest, such as the government or health insurance provider. EY Maatschappelijke Business Case Engels (002).pdf
Durchschnittlich verlässt nach 7 Jahren eine Pflegekraft ihren Beruf, der eigentlich eine Berufung ist.
Laut Berufsregister gibt es 180.000 Pflegekräfte in Österreich. 60.000 sind nicht (mehr) in der Pflege tätig. Die klassische Hauskrankenpflege konzentriert sich auf Dysfunktionalitäten. Und, wie das Daniel Palk von der Diakonie richtigerweise feststellt, pflegt man in Richtung Pflegeheim, obwohl das 90% der Menschen nicht wollen. Bei Buurtzorg ist das Pflegeziel Funktionalitäten wieder zu fördern und die Reintegration ins soziale Umfeld. Dies ist nur möglich, wenn man kompetente und von einer Zeitvorgabe befreite Mitarbeiter*innen hat. Und es ist billiger.
Ein Beispiel: Traditionellerweise wird die Zeit der PflegerInnen wie folgt eingeteilt: 25% für Dokumentation, 25% für Wegzeit, 15% benötigt der Klient/die Klientin, um die ständig neue Pflegekraft anzuweisen. Es bleiben effektiv nur 35% für die tatsächliche Pflege der KlientInnen. Bei Buurtzorg hingegen sind es 62% der Arbeitszeit für die Pflege der KlientInnen ein. Auszug aus einem Artikel von Wolfgang Huber, GF Buurtzorg Cura Cummunitas, NÖ
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Healthcare: humanity above bureaucracy | Jos de Blok | TEDxGeneva >>
Text: Elisabeth Sechser, 2019
PODCASTFOLGE #23: Eine Autofahrt mit Jos de Block über die Wechselwirkung von Organisationsgestaltung und guter Pflegearbeit.